2.2 Georgien
2.2.1 Volk, Sprache und Schrift
Über die Georgier erzählt man sich folgende Geschichte: Nachdem Gott die Welt erschaffen hatte, wollte er das Land an die Völker verteilen. Die Georgier hatten in der Sonne gefaulenzt und kamen zu spät. Statt zu klagen begannen sie zu singen und zu tanzen. Dies gefiel dem Herrn so sehr, das er dem lebensfrohen Volk den Winkel gab, welchen er für sich selbst reserviert hatte. So kamen die Georgier zu ihrem „Garten Eden". 14
Bildname

Rund 4,6 Mio. Einwohner sollen in Georgien leben, von ihnen sind etwa 83 % Georgier. Zum Volk der Georgier gehören somit etwa 3,9 Mio. Menschen im eigenen Land. Hinzu kommen rund 90.000 in der Türkei, 16.000 in Aserbaidschan und um die 200.000 in anderen Ländern wie Russland, USA, Frankreich, Ukraine, Deutschland und den Niederlanden. Das macht zusammen etwa 4,2 Mio. Georgier. 15

Das Georgische gehört zum südlichen Zweig der kaukasischen Sprachen. Es besitzt ein seit dem 4. Jh. n. Chr. nachgewiesenes, wohl noch viel älteres, eigenes Alphabet. Außerdem werden in Georgien 22 weitere Sprachen gesprochen, insbesondere (in abnehmender Sprecherzahl) Mingrelisch, Armenisch, Russisch, Aserbaidschanisch, Abchasisch und Ossetisch. 16

2.2.2 Religion
Das Christentum führte 327 Georgien als zweites Land der Welt ein. Der autokephalen „Georgischen orthodoxen Apostelkirche" gehören rund 84 % an. Rund 380.000 Georgier im südlich zur Türkei am Schwarzen Meer gelegenen Adscharien sind Muslime. Die armenische Minderheit von etwa 200.000 gehört ihrer eigenen Kirche an. Übrigens sind etwa 15 % aller georgischen Kirchen dem Hl. Georg geweiht. Religiöse Minderheiten haben es schwer, sie müssen sogar auf Hilfsgelder Steuern zahlen und Gebäude an die Staatskirche abtreten.

2.2.3 Staatsgebiet
Übereinstimmend nennen große Lexika 69.700 km² als Gebiet Georgiens, dies ist fast die Größe Bayerns. 17  Allerdings sind in dieser Zahl noch die nicht mehr von der georgischen Regierung beherrschten und vom Kernterritorium unzugänglichen Gebiete Abchasien mit 8.600 km² und Süd-Ossetien mit 3.900 km² enthalten. Berichtigt kommen wir auf 57.200 km². Die meisten Georgier haben sich inzwischen mit der Selbständigkeit Abchasiens abgefunden, die immerhin seit fast einer Generation fortbesteht. (Foto rechts: alt und schief neben neu und gerade: Stromleitung in Kutaissi)
Bildname

Als schmerzlicher wird der Verlust Süd-Ossetiens empfunden, da seine West-, Süd- und Ostgrenze einen tiefen Einschnitt in das eigene Territorium bedeuten. Prof. Matthée nennt es ein „heiliges Prinzip der russischen Seele": Jedes Stück Land, einmal erobert, wird gehalten, egal was es kostet, von Königsberg bis Kamtschatka, um sich am Riesenland zu berauschen. Die Osseten standen immer eng an der Seite der Russen, egal wer dort regierte.

Die Nordgrenze verläuft zum großen Teil auf dem Hauptkamm des Großen Kaukasus. Hier, im tief eingegrabenen Tal des Terek, reicht das georgische Gebiet jenseits des Kreuzpasses etwa 30 km auf die Nordseite hinüber. Den Süden begrenzen der Kleine Kaukasus und das Armenische Hochland. Gebirge bedecken rund 87 % der Landesfläche. Der von Nord nach Süd verlaufende Lichi-Gebirgszug teilt die Kolchische Tiefebene von der Transkaukasischen Senke.
Bildname

2.2.4 Wirtschaft
Ob Sie es glauben oder nicht - Georgien war nach dem Pro-Kopf-Einkommen die reichste Sowjetrepublik. Jedoch ist wie in Armenien die Industrie fast völlig zusammen gebrochen, so dass wieder die Landwirtschaft wichtigster Träger der Ökonomie ist. 2002 hatte das Bruttoinlandsprodukt erst 40 % des Niveaus von 1990 erreicht! Mit Direktinvestitionen hält sich das Ausland sehr zurück - 2006 wurde gerade einmal 1 Mrd. US-Dollar angelegt. Das Ausland hat Georgien nur 1,75 Mrd. US-Dollar geliehen - ein Drittel die Weltbank (rechts ein Kiosk in Tiflis mit Geldautomat der Bank Republic). Entsprechend schwach sind die georgischen Banken - ihr Kreditportfolio umfasste 2007 gerade 1,5 Mrd. US-Dollar  18 und damit so wenig wie eine deutsche Kreissparkasse. Doch die deutsche ProCredit Bank, die uns durch ein Netz kleiner aber feiner Filialen auffiel, hat sich inzwischen als viertgrößtes Kreditinstitut in Georgien mit Fokus auf kleine und mittlere Bankkunden gut etabliert.

Gemeinsam mit ihren Mitgliedsstaaten hat die Europäische Union seit 1992 mit rund 1 Mrd. Euro Georgien unterstützt. 19 Trotz Misserfolge (siehe Post) hält die georgische Regierung am Kurs einer umfassenden Privatisierung staatlichen Eigentums fest. Altersrenten liegen bei umgerechnet 19 Euro, die Unterstützung für Bürgerkriegsflüchtlinge beträgt max. 6 Euro. So verwundert es nicht, das jeder Dritte unterhalb der Armutsschwelle leben muss. Die frei konvertierbare Währung ist der Lari. Für einen Euro bekam man zur Zeit unserer Reise etwa 2,50 Lari. (Foto unten links: Jungen auf Eselskarren in Kachetien, rechts Ochsengespann mit Bäuerin bei Kutaissi)
BildnameBildname
Bildname
2.2.5 Altertum und Mittelalter
Die Geschichte Georgiens beginnt mit den alten Griechen - sie kolonisierten den Kolchis am Schwarzen Meer und das dahinter liegende Iberien (hat nichts mit der iberischen Halbinsel in Westeuropa zu tun) ab dem 6. Jh. v. Chr. Im folgenden Jahrtausend rangen das persische und das byzantinische Reich hier um die Vorherrschaft. 65 v. Chr. wurde das Gebiet von Rom abhängig, und im 4. Jh. wurde das Christentum eingeführt. Die Araber und nach ihnen die türkischen Seldschuken nahmen danach die Region ein.

Am Ende des 10. Jh. schüttete Georgien die byzantinische Abhängigkeit ab und vereinigte sich - das „Goldene Zeitalter" begann. Kultur und Dichtung blühten auf. Unter König Davit dem Erbauer und später Königin Tamar (links ein modernes Bild in Sions-Kathedrale in Tiflis) wurde Georgien zwischen 11. und 13. Jh. zur stärksten Macht im Transkaukasus.

Das Königreich der Bagratiden reichte vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer mit Teilen Armeniens. Die Mongolen unter Timur i-Läng (Tamerlan) zerstörten das Reich im 14. Jh., in dessen Folge zerfiel das Königtum in zunächst drei Teile - Imeretien, Kachetien und Kartli mit Tiflis. Hiervon nahmen sich den Westen das osmanische und den Osten das persische Reich.  (Foto rechts: Atlas aus Ulm von 1482 mit dem Land zwischen den Meeren: im Norden unter dem Großen Kaukasus, drei Länder Colchis in Gelb, Iberia in Grün, Albania in Weiß, im Süden des Kleinen Kaukasus Armenia maior, zu sehen im Matenadaran, Eriwan)
Bildname

2.2.6 Neuzeit
Erst 1762 bildete sich ein neues ost-georgisches Königreich, das jedoch 1783 zuerst Protektorat und 1801 schließlich Provinz des Russischen Reiches wurde. Auch die west-georgischen Gebiete gliederte das Zarenreich sich bis 1810 an.

Im Mai 1918 erklärte sich Georgien für unabhängig unter dem Schutz deutscher und türkischer, später britischer Truppen. Laut Prof. Matthée war die erste georgische Republik vom wilhelminischen Reich initiiert und sozialdemokratisch geführt. Doch schon im Februar 1921 kamen die Russen mit Stalins Roter Armee wieder ins Land und gliederten es als autonome Sowjetrepublik der Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (SFSR) an. Nachdem sich diese SFSR 1936 aufgelöst hatte, wurde die Georgische oder Grusinische Sowjetrepublik unmittelbar Teil der Sowjetunion. Erst sieben Jahrzehnte später, am 9. April 1991, nach der blutigen Niederschlagung einer friedlichen Demonstration in Tiflis, errang Georgien seine Souveränität zurück.

Separatisten betrieben mit russischer Unterstützung bereits in den späten achtziger Jahren die Loslösung von Abchasien und Süd-Ossetien. Der oberste georgische Sowjet beschloss 1989 ein Gesetz, mit dem Georgisch über alle anderen Sprachen gestellt wurde. Süd-Ossetien erklärte sich 1990 zur souveränen Republik. Um den ersten, autoritären Präsidenten Swiad Gamsachurdia entstanden innere Revolten bis zu dessen Selbstmord 1993/94. Prof. Matthée nennt den Präsidenten einen Hyper-Nationalisten, dessen Wille, alles zu georgisieren, in den Bürgerkrieg führte.

Abchasien erklärte im Juli 1992 ebenfalls seine Unabhängigkeit. Die Abchasier vertrieben im Oktober 1993 rund 200.000 bis 250.000 Georgier. Georgien trat 1993 der GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten unter Führung Russlands) bei; es erlaubte im Februar 1994 den Russen, drei Militärstützpunkte einzurichten. Gleichzeitig nahm Georgien Kontakte zur NATO auf für eine begrenzte militärische Zusammenarbeit.

Eduard Schewardnadse, der nun arbeitslose letzte Außenminister der Sowjetunion, wurde von Michail Gorbatschow gesandt und im November 1995 georgischer Präsident. Prof. Matthée nennt ihn einen ruhigen, besonnenen, maßvollen Mann. Er leitete demokratische Reformen ein. Unter ihm wurden Vereinbarungen mit der Europäischen Union getroffen und Georgien 41. Mitglied im Europarat. Auch der Bau der Ölleitung vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer (BTC: Baku - Tiflis - Ceyhan) fiel in seine Zeit - im Juni wurde sein Land in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen. Doch das Verhältnis zu Russland trübte sich ein wegen des nicht planmäßigen Verlaufs des Truppenabzugs einerseits und der Militärhilfe für die USA im sog. „Kampf gegen den internationalen Terrorismus" mit der Stationierung von US-Miltärberatern andererseits. Im November 2002 stellte Georgien einen Antrag zur Aufnahme in die NATO. Prof. Matthée erwähnte, der zweite Präsident habe diverse Aufstände und Attentate zu überstehen gehabt.

Bei der zweiten Wiederwahl 2003 wurde Schewardnadse Manipulation vorgeworfen - Micheil Saakaschwili trat als neuer starker Mann an. Die von ihm angefachte sog. „Rosenrevolution" führte am 23. November zum Rücktritt - Frau Nino Burdschanadse wurde Übergangspräsidentin. Am 4. Januar 2004 reklamierte Saakaschwili 96 % der Stimmen für sich - Wahlbeobachter hatten nichts beanstandet. Der neue Machthaber - US-Harvard-Student mit amerikanischem PR-Organisationstalent, wie Prof. Matthée ergänzte - lehnte sich noch enger an Europa und die USA an.

Saakaschwili fand vor allem deshalb so viel Zuspruch, weil er die abtrünnigen Provinzen Adscharien (was ihm gelang - Präsident Abachidse trat mit seinen 200 Mann Leibgarde ab), Abchasien und Süd-Ossetien (was schief ging) wieder unter die Zentralgewalt bringen wollte. Sein Nimbus ist seit dem 7./8. August 2008 angekratzt, als Saakaschwili die Südossetische Hauptstadt Zchingwali angriff. Ulrich Matthée war eine Woche vor Beginn der Kampfhandlungen hier. Wie er uns sagte, habe der Staatschef eine belgische PR-Agentur mit der Propaganda beauftragt. Doch seine Truppen flohen in panischer Angst vor den Russen. Seine nicht aufgestiegene Luftwaffe hätte nur den Südausgang des Roki-Tunnels bombardieren brauchen, sie wurde später am Boden zerstört. Die Russen konnten nach dem Waffenstillstand die gesamte von den USA aufgebaute militärische Infrastruktur zerstören.
Bildname
Bildname
Bildname
Das Auswärtige Amt schätzt, rund 23.000 Georgier aus Abchasien und Süd-Ossetien werden voraussichtlich nicht auf Dauer in ihre Heimat zurück kehren können. Mehrere Siedlungen für die Flüchtlinge, eine davon mit deutscher Hilfe, wurden mit hunderten kleiner Hütten errichtet, die wir von der neuen West-Ost-Autobahn aus sehen konnten. Saakaschwili charakterisiert Matthée als tatkräftig und heißblütig, ja als nervöses, tänzelndes, hochgezüchtetes Luxus-Rennpferd.

Wie soll es weiter gehen? Die georgische Regierung hat im Januar 2010 die „Strategie für die besetzten Gebiete: Einbindung durch Kooperation" angenommen. Moskau will durchsetzen, dass Georgien direkt mit den beiden De-facto-Staaten Abchasien und Süd-Ossetien ein Abkommen unterzeichnen soll, während Georgien lieber direkt mit Moskau verhandeln will. 20

Meines Erachtens nach ist die „Wiedereingliederung der beiden abtrünnigen Gebiete, die heute von Russland besetzt sind," eine Illusion.

(Bilder mit Symbolgehalt: oben Sminda Sameba mit Gergeti-Kloster auf dem Berg und schwarzes Schwein auf dem Dach, nahe dem Kasbek, Großer Kaukasus, an der Grenze zu Russland;  unten deutsches Luxusauto eines Georgiers neben verwahrlostem Haus in Kutaissi, da man das Auto in einer Krise schnell wegfahren, das Haus aber nicht mitnehmen kann.)

zurück   Übersicht   weiter
Bildname