3 Die Städte
3.1 Darmstadt
Der südliche Zipfel von Hessen, eingerahmt durch den Rhein im Westen, den Main im Osten und Norden mit der Metropole Frankfurt und im Süden den Neckar, ist uns Norddeutschen allgemein wenig vertraut. So prägen diesen Naturraum vor allem die Oberrheinische Tiefebene und das Mittelgebirge des Odenwaldes, an dessen Rand die "Bergstraße", die historische "Strada montana", ein natürlicher Völkerwanderweg, durch Darmstadt verläuft.

Dieses Gebiet wurde ab dem 5. Jahrtausend v. Chr. von der Wetterau herab besiedelt. Die sog. Schnurkeramiker, auch Streitaxtleute genannt, wurden von den Glockenbecherleuten verdrängt. Mit der frühen Bronzezeit, ab 1600 bis 1200 v. Chr., wird eine erste Kulturblüte erkennbar - in Grabfunden als Keramik, Schmuck und Waffen.
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Der Ort Darmstadt wurde vermutlich im 8. oder 9. Jh. von den Franken gegründet. Ende des 11. Jhs. trat ein Graf Sigebodo aus dem Geschlecht der Reginbodonen in die Geschichte ein, indem er Abgaben für "Darmundestat" verfügte. Allerdings wird der Behauptung aus dem "Darmstädter Echo" widersprochen, wonach ein Forstbeamter (ein "Wildhübner") Darmund, Darimund oder Tarimundis Namensgeber sein soll. Eher soll Dar oder Darre für Tor oder Hindernis und Mund für ein Schutzverhältnis die Grundlage gewesen sein, was etwa "Siedlung an einem befestigten Durchgang" bedeuten könnte. Auch der Darmbach könnte Urheber gewesen sein, also "Darm-unda-stat", jedoch soll der Darmbach erst seit dem 17. oder 18. Jh. so genannt worden sein.

Die Siedlung gehörte kurz nach dem Jahr 1000 kurz zum Bistum Worms, dann Bamberg und schließlich für acht Jahrhunderte zu Würzburg, bis zum Reichsdeputationshauptschluss von 1803.

Mitte des 13. Jhs. errichteten die Grafen von Katzenelnbogen eine Wasserburg zur Verteidigung. Durch den Darmbach getrennt entstand hier neben dem Bauerndorf eine Burgsiedlung. Kaiser Ludwig der Bayer verlieh an Graf Wilhelm I. 1330 die Stadtrechte. Der Darmstädter Markt richtete sich nach Frankfurt, Worms und Speyer aus. Die Lage an der Bergstraße und die Burg legten den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung. Das adlige Oberdorf und das bäuerliche Unterdorf verwalteten den Ort und ließen mit je sieben Schöffen Recht sprechen.

Im Laufe des 14. und 15. Jhs. bauten die Grafen von Katzenelnbogen die Burg weiter aus und schließlich zu einem repräsentativen Schloss um. Nach dem Aussterben des Grafengeschlechts 1479 fiel Darmstadt an Heinrich III. von Oberhessen und stagnierte als Vorposten des Machtzentrums Kassel. Mit Landgraf Philipp dem Großmütigen 1518 änderte sich Vieles. Dem Angriff durch Franz von Sickingen im selben Jahr konnte die Stadtmauer nicht stand halten, wie auch 1547 im Schmalkaldischen Krieg. Große Teile der Stadt und das Schloss wurden jeweils zerstört.

Nach Landgraf Philipps Tod 1567 wurde Hessen unter seinen vier Söhnen geteilt. Georg I. gründete die Linie Hessen-Darmstadt und machte aus dem Außenposten eine Residenz. Die Wirtschaft florierte, und die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt. Zu Krisen führten der Erbstreit um Hessen-Marburg und der Dreißigjährige Krieg. Darmstadt stand auf der kaiserlichen Seite. Die Franzosen, die Bayern und wieder die Franzosen zogen ein und verwüsteten die Stadt. Neben den Truppen strömte das verarmte Landvolk nach Darmstadt, wo es zu zwei Pestepidemien kam. Auch 1693 griffen die Franzosen an und zerstörten den Bergfried und Teile der Stadtmauer. Erst danach verwandelte sich Darmstadt von einer Ackerbürger- zur Residenzstadt.

Von 1715 bis 26 wurde ein neues Barockschloss gebaut; jedoch wurden aus Geldnot nur zwei der vier geplanten Flügel fertig. 1803 bekam Hessen-Darmstadt große Gebiete hinzu. Landgraf Ludwig X. trat dem Rheinbund bei und wurde von Napoleon zum Großherzog ernannt, er führte jetzt den Namen "Ludewig I. von Hessen-Darmstadt und bei Rhein". Er ließ von Georg Moller die "Mollerstadt" bauen, wogegen die Altstadt verarmte und verelendete. "Stadt des Jugendstils" nennt sich Darmstadt mit der Mathildenhöhe seit 1899, nur bedingt zu Recht, denn die damalige Landesregierung stand der Künstlerkolonie skeptisch gegenüber. Von 1918 - 45 war Darmstadt Sitz des "Volksstaates Hessen".

Am 8. Juni 1940 erlitt Darmstadt den ersten von 36 Bombenangriffen. Ab dem Sommer 1943 fielen fast täglich Bomben, bis am 11. September 1944 die Stadt in der sog. Brandnacht durch einen Großangriff der Royal Air Force mit Feuersturm in eine Trümmerwüste verwandelt wurde. 11.500 Menschen starben, 66.000 wurden obdachlos. Zerstört wurden 99 % der Alt- und Innenstadt, 78 % der Bausubstanz gab es nicht mehr. Darmstadt erlitt im Verhältnis zur Einwohnerzahl nach Pforzheim die zweitschwersten Opferzahlen aller Luftangriffe. Daher wurde das größere Wiesbaden neue Hauptstadt von Hessen.

Schloss, Rathaus, Stadtkirche und Landesmuseum wurden rekonstruiert, nicht das Alte Palais. Hier entstand das "Luisen-Center" nach kontroverser Debatte. Erst 1984 kam es mit dem Wiederaufbau des "Pädagogs" zu einer Zeitenwende, als sich eine Bürgerinitiative dem übertriebenen Modernitätsdrang entgegen stemmte. Doch da war das im Krieg völlig intakt gebliebene Martinsviertel schon abgerissen. 13
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Heute zählt Darmstadt als viertgrößte Stadt Hessens (nach Frankfurt, Wiesbaden und Kassel) rund 140.000 Einwohner. Etwa 30.000 davon sind Studenten, und seit zehn Jahren nennt das hessische Innenministerium Darmstadt "Wissenschaftsstadt". 14

Unsere Stadtführung mit Frau Dorothee Fischer-Sudrow begann im Nordwesten. Wir gingen durch die Mollerstraße (links), dem bedeutenden Architekten des Historismus, seit 1810 Oberbaurat und Hofbaudirektor des Großherzogtums, gewidmet. Die dreistöckigen klassizistischen Fassaden sind an den durchgehenden Simsen unterhalb der Fenster erkennbar.

Der Marktplatz aus dem 14. Jh. mit dem restaurierten Brunnen von 1546 wurde 1996 neu gepflastert: strahlenförmig mit indischem Granit. Er wird von schlichten Häusern der 50er Jahre - Frau Fischer-Sudrow nennt sie "Kraut- und Rüben-Architektur" - umstanden und ist nur an Sonnabenden belebt. Das Alte Rathaus von 1598 an der Südseite erinnert daran, dass Darmstadt einst Heimat einer reichen Architektur der Spätrenaissance und des Frühbarocks gewesen ist. Es beherbergt noch das Standesamt und den Ratskeller.

Der Luisenplatz ist der zentrale Punkt in Darmstadt. Auf diesem viel befahrenen Platz halten alle wichtigen Bus- und Straßenbahnlinien. In seiner Mitte ragt seit 1844 das Ludwigsmonument (rechts) auf, die 28 Meter hohe Säule mit der Bronzestatue für den Großherzog Ludwig I. Die Bürger ehrten ihn für die Verfassung, die sie ihm abgerungen hatten.
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Geht man vom Luisenplatz die Wilhelminenstraße hinauf, so sieht man den mächtigen Kuppelbau der Ludwigskirche (Bild links). Als erste katholische Kirche nach der Reformation wurde sie 1822 bis 27 von Georg Moller erbaut. Ihr Vorbild ist das Pantheon in Rom. Sie ist nach dem "Goldenen Schnitt" erbaut, hat 35 Meter Höhe und 43 Meter Durchmesser. Nach der Bombardierung bis auf die Grundmauern zerstört wurde sie außen 1994, innen 2005 wieder hergestellt.
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Das Haus der Geschichte (links) wurde als Hof- und später Landestheater 1819 von Georg Moller geplant und gebaut. Nach einem Brand wurde es 1871 höher wieder aufgebaut. Statt der Gasbeleuchtung bekam es jetzt Glühbirnen, und zwar ¾ aller in Darmstadt verwendeten. Mit 2.000 Plätzen war es eines der größten Theater seiner Zeit: Für jeden 10. Darmstädter gab es einen Sitzplatz! Heute plant man für je 1.000 einen. Aus der Weltkriegsruine wurde 1994 das Stadt- und Staatsarchiv. Hier lagern die Akten des Großherzogtums und des Volksstaates Hessen sowie vom früheren Regierungsbezirk Darmstadt und eine umfangreiche Bibliothek.

Nebenan steht das Hessische Landesmuseum mit einer bedeutenden Sammlung mittelrheinischer Plastik, Malerei, Glasmalerei, altdeutscher Tafelmalerei; es soll eines der größten Universalmuseen Deutschlands sein. Die Sammlungen bestanden zuerst, dann bekamen sie ihr eigenes Haus.

Freunde des Jugendstils nennen die Darmstädter Mathildenhöhe in einem Atemzug mit Paris, Brüssel, Wien, Glasgow und Barcelona. Einst befand sich hier östlich der Stadt ein Weinberg, bis hier vor zwei Jahrhunderten ein englischer Park entstand. Die katholische Prinzessin Mathilde von Bayern gab der Höhe ihren Namen. Mit Erbgroßherzog Ludwig III. ließ sie Pavillons errichten und den noch stehenden Platanenhain anpflanzen. Am Rand steht die Skulptur "Werdendes Kind mit sterbender Mutter", einem Bild von Paula Modersohn-Becker nachempfunden. Im Laufe des 19. Jhs. wuchs die Stadt um den Park herum,  mit dem Elisabethstift im Süden und zahlreichen Brauerein im Norden.
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Bis 1880 wurde auf der Kuppe ein Hochbehälter des Wasserwerkes angelegt. Prinzessin Alexandra heiratete Zar Nikolaus, beide ließen vom Petersburger Hofarchitekten die russisch-orthodoxe Kapelle 1897 errichten und Maria Magdalena weihen. Mit ihrer reich geschmückten Fassade und den leuchtend vergoldeten Turmhelmen prägt sie noch heute das Bild der Mathildenhöhe.

Großherzog Ernst Ludwig wollte die begonnene Bebauung fortsetzen. Der Großherzog war Sohn der Lieblingstochter Königin Victorias von Großbritannien. Diesem englischen Element und seinen England-Aufenthalten ist letztlich die Darmstädter Künstlerkolonie zu verdanken. Er gewann hierfür den Wiener Architekten Joseph Maria Olbrich (1867 - 1908). Als Mitglied der Wiener Sezession forderte der mehr: "Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt! Alles Andere ist nichts! Die Regierung soll uns ... ein Feld geben, und da wollen wir dann eine Welt schaffen!" 15
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Unter dem Leitspruch "Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst" rief der Großherzog die Künstlerkolonie 1899 ins Leben. Er war mit der britischen Bewegung "arts and crafts" gut vertraut, wie uns am sonnigen Sonntagmorgen Frau Renate Hoffmann erklärte. Die Künstler sollten neuzeitliche und zukunftsweisende Bau- und Wohnformen erarbeiten. Ernst Ludwig berief als Mäzen die Jugendstilkünstler - Architekten, Maler und Bildhauer - Peter Behrens, Paul Bürck, Rudolf Bosselt, Hans Christiansen, Ludwig Habich, Patriz Huber und Joesph Maria Olbrich nach Darmstadt. Sie sollten ihre eigenen Arbeits- und Wohnräume entwerfen und der Öffentlichkeit zeigen. Architektur, Innenarchitektur, Kunsthandwerk und Malerei sollten hier beispielhaft zusammenfinden. Insgesamt vier Ausstellungen fanden 1901, 1904, 1908 und 1914 statt.
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Wir begannen unseren Rundgang am Ernst-Ludwig-Haus. Der einzige Architekt der Künstlergruppe, Olbrich, ließ es als gemeinschaftliches Ateliergebäude errichten. Im Hauptgeschoss lag der Versammlungs- und Festraum mit Gemälden von Bürck, zu beiden Seiten schlossen sich je drei Ateliers an. Im Untergeschoss waren zwei Wohnungen. Die zwei Kolossalfiguren von Habich "Mann und Weib" oder "Kraft und Schönheit" flankieren den Eingang in einer Portalnische mit vergoldeten Pflanzenornamenten. Direkt neben der Tür stehen zwei Genien mit Lorbeerkränzen auf Masken mit angestrengten Gesichtern (links).
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Haus Olbrich, eines von acht von ihm geplanten, besaß ein rotes Schopfwalmdach. Der Architekt hatte alle Details der Einrichtung selbst entworfen. Die blauen Fliesen am Erdgeschoss außen sind original, des Obergeschoss nach dem 2. Weltkrieg neu aufgesetzt. Seit 1980 wirkt darin das Deutsche Polen-Institut - in anheimelnder Atmosphäre mit schönen Möbeln. Es nutzt auch Haus Deiters, das kleinste von allen. Das hohe Bauwerk an der Straßenecke besaß Wilhelm Deiters, der Geschäftsführer der Künstlerkolonie.

Das Große Glückert-Haus mit seiner Tür im Dreiviertelkreis hat innen einen den Raum prägenden Kamin, der nur zur Dekoration dient, ebenso wie daneben die Leisten mit Glühbirnen, die zu den ersten hier zählen (unten).

Der Möbelfabrikant Julius Glückert, ein wichtiger Förderer der Kolonie, hatte hier eine ständige Einrichtungsschau seiner Erzeugnisse platziert. Das Haus dient seit der Rekonstruktion der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 16

Haus Behrens entwarf der Maler Peter Behrens als Architektur-Autodidakt als Erstlingswerk mitsamt der Inneneinrichtung. Mit rund 200.000 Mark war es das teuerste der Ausstellung, wurde vom Bauherren aber nie bewohnt. Zu den grünen Klinkern erfuhren wir, Klinker käme von klingen, wenn man die hart gebrannten Tonziegel anschlage.

Im wahren Sinne des Wortes den Höhepunkt auf der Mathildenhöhe bildet der Hochzeitsturm, den wir zum Abschluss bestiegen. An die Vermählung des Großherzogs Ernst Ludwig mit Prinzessin Eleonore wollte Darmstadt mit einem Geschenk erinnern. Auch dem Großherzog gefiel die Idee eines Aussichtsturms. Zusammen mit dem Ausstellungsgebäude über dem Wasserreservoir sollte der Turm gemäß Stadtverordneten-Beschluss 330.000 Mark kosten.
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Der Turm besteht aus einem breiten mehrstufigen Sockel mit Eingangsportal, dem mit dunklen Klinkern gemauerten hoch aufstrebenden Turmkörper mit exzentrisch um die Ecke geführten Fensterbändern. Der 48 Meter hohe Turm trägt eine fünfzinnige Krone, er wird im Volksmund auch "Fünffingerturm" genannt. Das Darmstädter Echo schrieb 1906: "Aus der Ferne wie in der Nähe gesehen, erfülle (er) eine Denkmalpflicht: Stumme, doch ewige Kunde zu geben von der Begeisterung einer Bürgerschaft zu einer Zeit frohester glücklichster Lebensfeier!" 17

Innen ist der Turm in sieben Geschosse unterschiedlicher Höhe und Nutzung gegliedert. In Ebene 4 und 5 sind die Fürstenzimmer. Heute kann im 5. Stock im Hochzeitszimmer mit umlaufender Vertäfelung und Wandfries geheiratet werden - auch ein Lift führt hinauf. Die Eingangshalle mit vergoldetem Tonnengewölbe und Wandmosaiken hat Friedrich W. Kleukens entworfen. Die Inschrift am Turm gibt das Motto von Joseph Maria Olbrich für die Künstlerkolonie wider: "Habe Ehrfurcht vor dem Alten, und Mut, das Neue zu wagen. Bleibe treu der eigenen Natur und treu den Menschen, die du liebst." 18 (Foto unten: Mosaik "Der Kuss", ebenso wie der "Engel" in der Eingangshalle des Hochzeitsturms)

Ein einzigartiges Bauwerk der Moderne steht im Norden der Stadt: die Waldspirale von Friedensreich Hundertwasser. Dieses scheinbare Märchenschloss war das letzte Werk des Wiener Architekten von 1998 - 2000. Wie bei Hundertwasser üblich gibt es keine zwei gleichen Fenster, Säulen, Türme usw. Im Haus sind 105 Appartements untergebracht. Der bis zu zwölf Stockwerke hohe Bau aus Beton ist mit Linden, Buchen und Ahorn bepflanzt. 19  Restaurant bzw. Café wurden von vielen Mitgliedern unserer Reisegruppe am Abend besucht - und gelobt.

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