2 Geschichte im französisch-deutschen Grenzraum
2.1 Von Lotharingien bis Lothringen
Das Frankenreich von Karl dem Großen wurde nach dem Tod Kaiser Ludwigs unter seinen noch lebenden drei Söhnen aufgeteilt. Dabei verschworen sich die beiden jüngeren Brüder gegen den älteren Bruder, den sie mit einem kaum regierbaren Landstrich abspeisten, wie uns Dr. Budesheim erklärte. Karl der Kahle erhielt den Westteil (hellgrün), Ludwig der Deutsche den Ostteil (dunkelgrün). Dazwischen wurde für den Ältesten der Brüder das Mittelreich geschaffen, das sich von Friesland, den niederen Landen über das Elsass, Burgund, die Provence sowie die Lombardei und Toskana bis vor Rom erstreckte. Im Vertrag von Verdun erhielt im Jahr 843 Lothar dieses "Lotharii Regnum", auch Lotharingien, mit der Kaiserwürde.
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Als Lothar I. starb, wurde im Vertrag von Prüm 855 dieses Mittelreich erneut aufgeteilt. Lothar II. erhielt den Teil zwischen Maas und Rhein, der Nordseeküste und Besançon, das Lotharingien im engeren Sinne. Außer dem heutigen Lothringen gehörten hierzu also noch das Saarland, Luxemburg, Trier mit dem deutschen Moselland, das belgische Wallonien, der Niederrhein mit Aachen, Köln und Duisburg und einige südliche Niederlande.
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Nach dem Tod von Lothar II. kam es 870 zur dritten Teilung im Vertrag von Meerssen. Der reiche Osten mit Utrecht, Köln und Straßburg sowie der Kaiserstadt Aachen kam an des Ostfrankenreich.

Nach dem Tod vom ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen 876 versuchte sein westfränkischer Bruder Karl der Kahle die Osthälfte Lotharingiens zu erobern. Ludwig III., ein Sohn Ludwigs des Deutschen, verhinderte dies in der Schlacht bei Andernach. Dem Tod von Karl dem Kahlen 877 folgte 879 der seines Sohnes, Ludwig dem Stammler. Daraufhin bekam Ludwig III. 880 den Westteil Lotharingiens im Vertrag von Ribemont.

Fortan gehörte ganz Lotharingien zum Ostfrankenreich. Jedoch verfiel ab 900 unter Ludwig dem Kind die Zentralgewalt; es bildeten sich Stammesherzogtümer. Auch Lotharingien wurde Herzogtum. Nach dem Tod von Ludwig IV. dem Kind 911 erlosch die ostfränkische Linie der Karolinger. Das Herzogtum Lotharingien schloss sich 921 im Vertrag von Bonn wieder dem Westfrankenreich unter Karl dem Einfältigen an. Im Königstreffen von Sedan 935 wurde die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich bestätigt.

Nachdem König Heinrich I. die Zentralgewalt im Ostfrankenreich, jetzt dem Deutschen Reich, wieder hergestellt hatte, unterwarf sich ihm der lothringische Herzog Giselbert. Heinrich gliederte das Herzogtum Lothringen als fünftes Stammesherzogtum in sein Reich ein und stellte die territorialen Verhältnisse von 880 wieder her. Die Karolinger aus dem Westfrankenreich versuchten mehrfach, Lothringen zurück zu holen. Nach dem Krieg von 940 musste Ludwig IV. 942 auf Lothringen verzichten. 6

2.2 Nieder- und Oberlothringen
Kaiser Otto I. überließ Lothringen 953 seinem Bruder Bruno, Erzbischof von Köln. Das Herzogtum teilte sich nach dessen Tod 959 in das nördliche Niederlothringen (Ripuarien) und die südliche Oberlothringen (Mosellanien) mit dem heutigen Lothringen, der Saar, Luxemburg, Trier, Prüm und Koblenz.

978 versuchte König Lothar von Frankreich abermals, Lothringen zu vereinnahmen. Nach dem Tod von Otto dem Großen überfiel Lothar Otto II. in Aachen. Otto II. ging im Vergeltungszug bis kurz vor Paris. Frankreich stellte vorläufig seine Eroberungsversuche ein.

Niederlothringen kam 977 an die letzten westfränkischen Karolinger Karl († 991) und Otto († 1006 oder 1012). Bis 1100 folgte das Haus der Ardennergrafen, das 1033 unter Gozelo I. noch einmal beide Lothringen vereinigte.

Kaiser Heinrich II. gab 1047 Oberlothringen an Graf Gerhard (Adalbert) von Elsass als Lehen. Etwa im 12. Jh. wurde der Grenzverlauf zwischen Nieder- und Oberlothringen nach Süden verschoben: Luxemburg, Trier, Prüm und Koblenz fielen an Niederlothringen. Mit der Zergliederung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation von etwa 1210 bis 1360 zerfiel auch Niederlothringen, und zwar in die Herzogtümer Luxemburg, Jülich und Brabant sowie zahllose weitere Herrschaften.

Von Oberlothringen spaltete sich das Herzogtum Bar ab; ein großer Teil blieb aber unter dem Namen Herzogtum Lothringen eine politische Einheit mit der Hauptstadt Nancy. Metz, Toul und Werden (Verdun) wurden freie Reichsstädte. Die Bischöfe von Metz, Toul und Verdun erwarben ebenfalls kleinere reichsunmittelbare Territorien. 1380 schloss Bar sich wieder Lothringen an. Nach dem Aussterben der Grafen von Elsass, jetzt Herzöge von Lothringen, mit dem Tod von Karl II. 1431 ging Oberlothringen an Renatus (René I.) von Anjou, Titularkönig von Neapel, 1473 an Renatus (René II.), Graf von Vaudemont.

Von 1430 bis 73 erwarben die Herzöge von Burgund den größten Teil Niederlothringens, und zwar den Hennegau, Brabant, Limburg, Luxemburg, Holland, Seeland und Geldern. Mit dem burgundischen Erbe fielen 1477 diese Landesteile an das deutsche Fürstenhaus Habsburg. Mit ihm kamen sie später an Spanien bzw. die selbständigen Niederlande und entfremdeten sich vom Römisch-Deutschen Reich.

Der Rest Niederlothringens mit dem Niederrhein, Aachen und Trier, blieb beim Reich; der Name Niederlothringen ist aber nicht mehr in Gebrauch. (Foto: Fuhrmann auf dem Schwabentor in Freiburg im Breisgau)
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2.3 Lothringen zwischen Frankreich und Deutschem Reich
Der Name Lothringen gilt fortan nur noch für Oberlothringen. 1475 eroberte Karl der Kühne von Burgund auch das Herzogtum Lothringen, wonach ihm die Schweizer Eidgenossen den Krieg erklärten. René II. gelang es, sein Großterritorium aus den Herzogtümern Lothringen und Bar und der Grafschaft Vaudémont, auch mit Unterstützung einiger Reichsstände, 1477 in der Schlacht bei Nancy zu behaupten. Er siegte und stellte die Unabhängigkeit Lothringens innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wieder her. Sein Sohn Anton der Gute vergrößerte das Herzogtum auf Kosten der drei Bistümer. 1542 wurde im Vertrag von Nürnberg die Bindung Lothringens zum Reich durch Herzog Anton den Guten gelockert, der in den Jahren zuvor schon ein Übergreifen der Reformation auf Lothringen verhindert hatte.

Während der Minderjährigkeit Karls III. riss 1552 Heinrich II. von Frankreich die Bistümer Metz, Toul und Verdun an sich. 1552 verkaufte Moritz von Sachsen, der Anführer der Protestanten, in einem Komplott gegen den katholischen Kaiser Karl V. das Reichsvikariat über die drei überwiegend Französisch sprechenden Reichsstädte Metz, Toul und Verdun für 70.000 Goldkronen monatliche Unterstützung an Frankreich im Vertrag von Chambord. Bis 1556 herrschte Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich um diese drei Städte. Der neue Kaiser Ferdinand I. stellte den Krieg ein; die Städte und auch die bischöflichen Territorien blieben bei Frankreich.

Unter Karl III., Herzog von 1545 - 1608, erlebte Lothringen seine größte Blüte. Im Dreißigjährigen Krieg zog sich Herzog Karl IV. wegen seines Anschlusses an Kaiser, Liga und französische Fronde die Feindschaft des Kardinals Richelieu zu. Lothringen wurde auf Geheiß Richelieus besetzt. Im Westfälischen Frieden blieb es unberücksichtigt, während das Elsass, Metz, Toul und Verdun endgültig Frankreich zugesprochen wurden. Erst im Frieden von Vincennes 1661 wurde der Abzug der Franzosen festgelegt, unter Verlust strategisch wichtiger Punkte. 1670 bemächtigte sich Frankreich wieder des Landes Lothringen und gab es erst 1697 im Frieden von Rijswijk nach dem Krieg gegen die Augsburger Liga verkleinert an den jungen Herzog Leopold wieder heraus. 7 Das Elsass mit Straßburg ließ Ludwig XIV. 1681 besetzen und annektieren.

Leopolds Sohn Franz Stephan von Lothringen beabsichtigte, Maria Theresia von Habsburg zu heiraten, in die er sich verliebt hatte, und die nach dem Willen ihres Vaters Thronerbin von Österreich werden sollte (Pragmatische Sanktion). Frankreich wollte verhindern, dass Lothringen wieder ein Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation würde, befürchtete ein Wiedererstarken der österreichischen Macht am Rhein und protestierte. Daraufhin bot Ludwig XV. von Frankreich 1735 Franz Stephan den Tausch seines Herzogtums gegen das Großherzogtum Toskana an. 8  Diesen Tausch bestätigte der Vertrag von Wien, der den polnischen Thronfolgekrieg beendete. Dieser entstand aus dem Wunsch von Zar Peter dem Großen, einen eisfreien Ostseezugang zu bekommen, weshalb er den polnischen König vertrieb. Franz Stephan heiratete 1737 und wurde 1745 an der Seite von Maria Theresia, mit der er 16 Kinder hatte, als Franz I. deutscher Kaiser. Der ehemalige polnische König Stanislaus I. Leszczynski, der schon 60-jährige Schwiegervater von Ludwig XV., erhielt Lothringen im Wiener Vertrag von 1738 auf Lebenszeit zugesprochen. Seine Residenz nahm Stanislaus in Nancy. Er stand früh auf, rauchte rund 20 Pfeifen am Tag und betätigte sich als Wohltäter für Arme. Nach Stanislaus' Tod im Alter von 80 Jahren 1766 fiel Lothringen vereinbarungsgemäß an Frankreich.

In der französischen Revolutionszeit wurde die Region vollständig Teil der 1. französischen Republik. Sie blieb es auch während des 1. Kaiserreiches, der Restaurationszeit, der Julimonarchie, der 2. Republik und des 2. Kaiserreiches. Es wurde wie das übrige Frankreich in Départements unterteilt. 9

2.4 Reichsland Elsass-Lothringen
Um 1850 begann die Industrialisierung in der Region Nancy. Im selben Jahr wurde die Bahnlinie Nancy - Metz eröffnet, kurz danach eine durchgehende Eisenbahnstrecke von Reims über Nancy nach Straßburg und von Metz über Saarbrücken nach Mannheim.

Nach dem Sieg Preußens und seiner Verbündeten im Deutsch-Französischen Krieg 1871 wurden im Frankfurter Frieden die Gebiete mit mehrheitlich Deutsch sprechenden Einwohnern im Nordosten Lothringens sowie Metz zusammen mit dem Elsass als Reichsland Elsass-Lothringen dem neu gegründeten Deutschen Reich einverleibt.
Drei Möglichkeiten der Eingliederung wurden erwogen:
  • Angliederung als preußische Provinz
  • Eingliederung Lothringens in die bayerische Pfalz, des Elsasses in Baden
  • Neuschaffung eines Reichslandes.
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Die vierte Möglichkeit, Elsass-Lothringen den Status eines Bundesstaats des Deutschen Reichs mit eigenem Landesherrn und eigener Landesverfassung zuzugestehen, wurde nicht erwogen. Nicht zuletzt war man in Preußen der Überzeugung, die Bevölkerung des Landes müsse zuerst noch "germanisiert" werden. Deshalb wurde das Reichsland zunächst als besetztes Gebiet behandelt und unmittelbar durch das Reich verwaltet. Die Bevölkerung stand der Annexion ablehnend gegenüber; fast ein Drittel optierte für Frankreich. Viele vor allem Französisch sprechende Einwohner verließen die Region.

Acht Jahre lang wurde Elsass-Lothringen wie eine preußische Provinz verwaltet. Mit der 1879 eingeführten Reichsverfassung wurde ein kaiserlicher Statthalter eingesetzt, der einen Teil der landesherrlichen Befugnisse ausübte. Ihm zur Seite stand das Ministerium aus vier Abteilungen mit Unterstaatssekretären unter einem Staatssekretär (Stellvertreter des Statthalters), als beratendes Organ ein Staatsrat (Staatssekretär, Unterstaatssekretäre, Oberlandesgerichtspräsident, Oberstaatsanwalt und acht bis zehn vom Kaiser berufene Mitglieder) und ein auf drei Jahre gewählter Landesausschuss (58 Mitglieder) mit dem Recht, Gesetze vorzuschlagen. Der Kaiserliche Rat (Räte des Ministeriums) war eine Art Oberverwaltungsgericht mit beschränkter Zuständigkeit. Elsass-Lothringen entsandte 15 Abgeordnete in den Deutschen Reichstag; im Bundesrat war es nicht vertreten. An den Spitzen der Bezirke standen Bezirkspräsidenten, an denen der Kreise Kreisdirektoren. Dem Oberlandesgericht in Colmar waren sechs Landgerichte und 76 Amtsgerichte zugeordnet. Stationiert waren zwei Armeekorps, das 15. in Straßburg und das 16. in Metz. Festungen bestanden in Straßburg, Metz, Diedenhofen, Bitsch und Neubreisach. Haupt- und Universitätsstadt war Straßburg.  Der "Diktatur-Paragraf", der es dem Statthalter ermöglichte, bei Gefahr alle geeignet erscheinenden Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Ordnung zu ergreifen, wurde 1902 aufgehoben. Erst 1911 - das Land hatte jetzt 1,87 Mio. Einwohner - wurde Elsass-Lothringen den übrigen deutschen Bundesstaaten nahezu gleich gestellt; es erhielt eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament, eine eigene Fahne und drei Vertreter im Bundesrat.

Im Weltkrieg von 1914 - 18 unterstand Elsass-Lothringen einer Militärverwaltung, die sich durch ihr rigoroses Vorgehen unbeliebt machte, vor allem ihre rücksichtslose Eindeutschungspolitik, sowie den Plan der Aufteilung auf Bayern, Baden und Preußen. Lothringen war Schauplatz fürchterlicher Schlachten, wie der Schlacht in Lothringen 1914 und der Schlacht um Verdun 1916. Die Gewährung der vollen Autonomie im Oktober 1918 hatte keinen Einfluss auf die ablehnende Haltung der Bewohner; die französischen Truppen wurden vielfach als Befreier begrüßt. 11 Nach der Niederlage des deutschen Kaiserreichs wurde 1918 der nordöstliche Teil Lothringens vom Deutschen Reich getrennt und Teil Frankreichs.

Das Reichsland wurde im Oktober 1919 aufgelöst und fortan von einer Generaldirektion in Paris verwaltet. Abgeordnete der Nationalversammlung, die sich für eine Autonomie aussprachen, wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, der Führer der Autonomistenpartei 1940 wegen angeblicher Spionage hingerichtet.

Nach der Kapitulation Frankreichs zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde 1940 Lothringen durch die Wehrmacht besetzt. Das Département Moselle wurde als "CdZ-Gebiet Lothringen" einem Chef der Zivilverwaltung unterstellt und faktisch wie Reichsgebiet behandelt; das Territorium wurde aber nicht mehr förmlich in das Deutsche Reich eingegliedert. 1944/45 wurde Lothringen von alliierten Streitkräften besetzt. Seitdem ist Lothringen wieder Teil der Republik Frankreich.

2.5 Die Sprachenfrage
Der Kamm der Vogesen bildete für mehr als zwei Jahrtausende die Sprachgrenze zwischen romanischem (später französischem) und germanischem (später deutschen) Sprachraum (Straßburger Eid).

Das Lothringische ist eine Dialektgruppe der westmitteldeutschen, fränkischen Sprachfamilie. Es gehört teils zum rheinfränkischen und teils zum moselfränkischen Sprachraum. Damit ist es am nächsten mit dem saarländischen "Platt" und dem Luxemburgischen verwandt. Das Lothringische wird auch "francique" oder "platt", "lothringer Platt" oder "lothringer Deitsch" genannt.

Nach dem Anschluss an das Deutsche Kaiserreich wurde im Gesetz von 1872 geregelt, dass grundsätzlich die amtliche Geschäftssprache Deutsch war. Jedoch sollte in den Landesteilen mit überwiegend Französisch sprechenden Einwohnern den öffentlichen Bekanntmachungen und Erlassen eine französische Übersetzung beigefügt werden. (rechts: Tafel mit Namen von Ärzten in Metz)
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In einem weiteren Gesetz von 1873 wurde für Bezirks- und Kreisverwaltungen der Gebiete mit Französisch als Volkssprache diese auch als Geschäftssprache zugelassen. In einem Gesetz über das Unterrichtswesen von 1873 wurde die jeweilige Volkssprache Deutsch bzw. Französisch gleichzeitig ausschließliche Schulsprache. (Bild links: Lokal in Épinal)

Nach dem 2. Weltkrieg betrieb die französische Regierung eine sprachliche Assimilierungspolitik ("c'est chic de parler français"). Da in Lothringen die öffentliche Sprache nun Französisch ist, wird Lothringisch nur noch in ländlichen Regionen im familiären Bereich und auch da nur von der älteren und mittleren Generation gesprochen. Für die meisten Kinder in Lothringen ist das Lothringische nicht mehr "Muttersprache", sondern nur noch "Großmuttersprache". So ist zu erwarten, dass dieser Dialekt in einigen Jahrzehnten nur noch als "Folkloresprache" vorhanden sein wird. 12

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