3 Die Hauptstädte
3.1 Eriwan (auch Erevan, neu Jerewan, engl. Yerevan)
Frage an Radio Eriwan: Ist es möglich, dass ...? Antwort: Im Prinzip ja, aber ... Sie kennen vermutlich den einen oder anderen Witz, wo sich jemand Rat erhofft und auf simple Art abblitzt. Spaß bei Seite. Mit diesen Witzen wurde auch die nicht korrekte Transliteration konserviert, Jerewan ist aber die bessere Schreibweise. 21
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Eriwan ist die Metropole in Armenien, mit 1,2 Mio. Einwohnern, im Großraum rund 1,4 Mio. Damit lebt fast jeder zweite armenische Staatsbürger in der Hauptstadt. Diese liegt in einem weiten Talkessel in Hufeisenform am Fluss Rasdan, einem Nebenfluss des Arax (Araks, Aras), der wiederum ein Nebenfluss der Kura ist, welche ins Kaspische Meer mündet. Auf einem der umliegenden Hügel der Ararat-Hochebene, die rund 850 bis 1.300 m über dem Meer liegt und größer als Deutschland ist, wurde eine Festung der Urartäer ausgegraben. Sie stammt aus dem Jahr 782 v. Chr. und trug den Namen Erebuni (siehe Museum, Kapitel 7.2); daraus wurde Eriwan. - Erebuni heißt auch das ****-Hotel hinter dem Platz der Republik, wo wir gut untergebracht waren. 22

Die Stadt Eriwan wurde Anfang des 7. Jh. n. Chr. erstmals erwähnt. Wie Armenien selbst war die Fernhandelsstadt zwischen osmanischem und persischem Großreich immer wieder umkämpft - sie wechselte im Spätmittelalter 14 Mal hin und her. So eroberten die Türken sie 1554, die Perser zerstörten sie 1604 und deportierten Zehntausende Einwohner. Die Perser errichteten 1735 ein Khanat mit Eriwan als Hauptort, das ein Jahrhundert bestand. 1827 wurde die Stadt mit dem östlichen Armenien in das russische Zarenreich eingegliedert. Anfang des 20. Jh. lebten hier 29.000 Menschen, je zur Hälfte Armenier und Aseri (Aserbaidschaner). Hauptstadt des kurzlebigen unabhängigen Armenien ab 1918 und der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik ab 1920 war ebenfalls Eriwan. 23

Aus dieser Zeit des Aufbruchs stammt die Bebauung um den zentralen Platz der Republik, ehemals Leninplatz (unten links und rechts). Die Monumental-Architektur in armenischer Neoklassik ist im Sonnenschein ebenso beeindruckend wie von Hunderten Lampen angestrahlt in der Nacht. Die von mehrfarbigen Scheinwerfern beleuchteten Wasserfontänen nehmen immer wieder andere Formen an - begleitet von Musik aus Lautsprechern. Klar, dass dies Hunderte Besucher anzieht, auch uns.

Einen Ableger vom Republiksplatz bildet eine komplett neu erbaute Geschäftsstraße mit Fußgängerzone. Die Architektur ist hochwertig - aber viel zu teuer mit Mieten sogar für Wohnungen von rund 1.000 US-Dollar pro m². Kein Wunder, dass außer wenigen Bankfilialen fast alle Läden und Wohnungen leer stehen. Eine moderne Geisterstadt. Sicher spielt hier Korruption eine große Rolle - Armenien wird hier sehr negativ wahrgenommen. 24

Bedeutendste Kulturstätte ist die Handschriftensammlung Matenadaran hoch am Rand der Stadt, siehe Kapitel 7.1. Auf dem Hügel Tsitsernakaberd über der Stadt liegt die Gedenkstätte für den Völkermord, siehe Kapitel 2.1.6. Oper, Theater, die Universität von 1919 und andere Hochschulen bereichern die Stadt. Ob es arbeitende Industriebetriebe gibt, konnten wir nicht feststellen. Fast alle Baustellen stehen still, vermutlich nicht nur wegen der Sommerferien. (Foto rechts: Häuserfassade in schattiger Altstadtstraße)

Wir ließen uns nicht entmutigen und genossen zweimal ein festliches Abendessen im Keller „Ararat" am zentralen Platz, mit viel Gemüse, Kräutern, mit Hack gefüllten Tomaten, Paprika, Melonen, Kuchen, dazu guten goldenen Wein. Unterhalten hat uns eine Live-Band aus einem Sänger, einem Trommler und zwei Flötenspielern mit ihren sog. Duduks. Die Volksmusik gefiel uns so gut, dass sich viele von uns eine CD kauften.
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3.2 Tiflis (auch Tblissi, Tblisi)
Tiflis heißt seit 75 Jahren auf Georgisch Tbilissi, abgeleitet von „tbili" = warm, also „warme Quelle". Nach der Legende soll im 5. Jh. König Wachtang Gorgassali einen Fasan erlegt haben. Sein Falke folgte dem Fasan und führte den König zu einer siedenden Quelle, darin den gar gekochten Fasan. Der Ort liegt in einem Talkessel 21 km entlang der gewundenen Kura, zwischen 400 und 520 m über dem Meer. Die Zahl seiner Bewohner liegt offiziell bei gut 1,1 Mio. und im Großraum bei 1,3 Mio. Damit lebt jeder dritte Georgier in der Metropole. 25

Die Hauptstadt besteht bereits eineinhalb Jahrtausende; als Kapitale des ostgeorgischen Königreichs Iberien (hat nichts mit der Halbinsel in Südwesteuropa zu tun) wurde sie um 485 n. Chr. 26 gegründet. Die Römer nannten sie auf einer Karte Pilado. 27
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Sie lag an einer Kreuzung der Karawanenstraßen vom Schwarzen Meer nach Persien, Indien und China. Ende des 6. Jh., nach dem vorletzten Römisch-Persischen Krieg, wurde Tiflis oströmische Provinzhauptstadt. Im 7. Jh. wurde sie von den Arabern erobert und Hauptort eines Emirats, ging danach in persischen, byzantinischen und Mitte des 11. Jh. in seldschukischen Besitz über.
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Unter Davit IV. dem Erbauer wurde die Stadt 1121 zurück erobert und zur Residenz eines christlich-georgischen Königreiches - und blühendes Handelszentrum. Am Schnittpunkt von inzwischen sieben europäisch-asiatischen Handelswegen blühte Tiflis zu einer der reichsten Städte des Mittelalters auf: Marco Polo berichtete, es gäbe in Georgien eine herrliche Stadt namens Tiflissi, die von Vororten und vielen Festungen umgeben sei. Im 13. bzw. 14. Jh. drangen Mongolen unter Timur ein und verwüsteten Tiflis. Fortan gehörte es zum osmanischen bzw. persischen Machtbereich und wurde 1795 weitgehend zerstört, 22.000 Menschen wurden in die Sklaverei verschleppt.
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Das Zarenreich griff ein. Der, wie Herr Matthée es ausdrückte, „bis heute entzündete weiche Unterleib von Mütterchen Russland" sollte geheilt werden. Die Großmacht verband Cis- mit Trans-Kaukasien, also Wladikawkas (russisch für: „beherrsche den Kaukasus") mit Tiflis, durch die 208 km lange Grusinische bzw. Georgische Heerstraße, die 1799 dem ständigen Verkehr übergeben wurde.

Zwei Jahre nach der Besetzung machten es 1801 die Russen zur Gouvernements-Hauptstadt, die dank Zoll- und Steuerbefreiung aufblühte und wo seit 1845 ein Statthalter des Zaren residierte. Eisenbahnlinien nach Poti und Batumi am Schwarzen Meer und nach Baku am Kaspischen Meer wurden gelegt. Die Einwohnerzahl verzehnfachte sich im 19. Jh., 1886 wurden 100.000 Einwohner überschritten, elf Jahre später sogar 160.000 gezählt. Armenier und Russen stellten die Mehrheit, Georgier nur ein Viertel. Auch für die Georgische SSR 1921 wie für die Transkaukasische SFSR war Tiflis Hauptort.
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Nach der Industrialisierung in den Vierziger- entstanden große Neubaugebiete mit Wohnblöcken in den Fünfzigerjahren. 1966 wurde die erste, 1979 die zweite U-Bahn-Linie eröffnet. 1972 wurde auf dem 730 m hohen Berg Mtazminda aus drei Stahlrohren ein Fernsehturm von 274,50 m Höhe errichtet (oben rechts) 28 - er wird nachts leicht amerikanisch wechselnd beleuchtet, was auch zum beliebten Vergnügungspark zu seinen Füßen passt. Heute sind 85 % der Tiflisser Georgier. Mehr als die Hälfte von ihnen sind arbeitslos! Beim letzten Erdbeben 2002 kamen nur sechs Menschen zu Tode, aber 10.000 Häuser zu Schaden; wir sahen rissige Backsteinbauten, in denen trotzdem noch arme Menschen wohnten (links).

Bei so viel Hauptstadtfunktion erwarten wir eine Vielzahl an Prachtbauten. Entlang der elegantesten Straße, dem Rustaweli-Prospekt, finden wir durchaus weit ausladende Paläste, Theater u.ä., aber fast durchweg in beklagenswertem Zustand - nicht anders als fast im ganzen Land. Zwanzig Jahre Kapitalismus sind der Stadt kaum besser bekommen als siebzig Jahre Kommunismus.

Die orientalisch enge Altstadt breitet sich östlich der Kura aus, auf deren Steilufer unser Hotel „Old Town oder auch „Dzveli Metekhi" genannt liegt 29 (rechts, Bildmitte) - vom Holzbalkon kann man direkt in das grüne Flusswasser spucken.
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Gleich um die Ecke, etwas hangabwärts, steht auf dem einstigen Palastgelände die von 1278 bis 89 errichtete Metechi-Kirche (links). Der ungewohnte Name steht für einen Ausruf des Königs Wachtang: „Ak me mteri wteche", zu Deutsch: „Hier habe ich den Feind erschlagen". Hier wird gebaut - aber auch Gottesdienste werden wieder abgehalten. Zu Sowjetzeiten befand sich hier ein Jugendtheater.
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Auf dem Platz davor ragt ein modernes Bronze-Reiterstandbild für  Wachtang I. Gorgassali (deutsch Wolfshaupt) auf, König und Stadtgründer, der die Residenz von Mzecheta hierher verlegte. An der Mittelapsis sehen wir oben ein Kreuz und um die Fenster Lebensbäume. Innen finden wir eine niedrige Ikonostase und auch an den Pfeilern Ikonen. Die Wände sind jetzt frisch verputzt und schmucklos. Um das Gotteshaus stehende Palastgebäude wurden in der Zarenzeit als Pulverkammer und Gefängnis umgenutzt, wo auch der spätere Diktator Josef Stalin einsaß. Nach dem Abbruch 1937 steht die Kirche allein auf dem Plateau. 30

Über die Brücke gelangen wir an der Engstelle der Kura in die Innenstadt. Diese wird überragt von den Ruinen der ab dem 4. Jh. von Persern erbauten Festung Narikala, abgeleitet von Nari-Qala, was „uneinnehmbare Burg" 31 bedeutet (unten rechts). In den Mauern, seit einer Pulverexplosion 1827 Ruinen, steht die intakte, innen frisch ausgemalte, Nikolaus-Kirche, die bei Hochzeitspaaren beliebt ist. Alles auf dem Sololaki-Gebirgskamm wird nachts herrlich angestrahlt.

Am Hang unterhalb der Festung, auf deren Sonnenseite, ließ der deutsche Landschafts-Architekt Heinrich Scharrer einen mitunter steilen, über 128 ha ausgedehnten Alexander-Park mit Botanischem Garten (dem einst größten in der Sowjet-Union) 32 anlegen,
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den wir in kleinen Grüppchen durchstreiften - oder vor dem Wasserfall rasteten. Die meisten der Bäume und Sträucher aus rund 1.000 verschiedenen Arten sind über ein Jahrhundert alt, einige mit fast einen Meter Stammdurchmesser (rechts, eine Pinaceae Cedrus Deodara aus dem Himalaya). Auf dem Bergkamm reckt sich aus Aluminium silbrig glänzend die Monumentalstatue der Kartlis Deda, der „Mutter Georgiens" in den blauen Himmel. Sie hält seit 1958 in ihrer linken Hand eine Schale Wein für die Freunde, ein Schwert gegen die Feinde in der rechten Hand (links). 33
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Im Bäderviertel Abanotubani befinden sich Schwefelbäder des 17. Jh. sowie eine Moschee. Einen Höhepunkt in der Altstadt bildet die etwas vertieft stehende nach dem Berg Zion in Jerusalem benannte Sions-Kathedrale, deren älteste Teile aus dem 5. Jh. stammen. Das vom 17. bis 19. Jh. aus Tuffstein errichtete Gotteshaus gilt als eine der heiligsten Stätten der Georgischen Orthodoxen Apostelkirche und war bis 2004 (der Verlegung in die neue Tifliser Sameba-Kathedrale) Sitz des georgischen Patriarchen bzw. Katholikos. 34 Davor ragt der klassizistische Glockenturm aus der Zarenzeit auf, ein weiterer Turm ersetzt seit einem Dreivierteljahrhundert zwei Vorgängerbauten. Prof. Matthée stuft die georgisch-orthodoxe Kirche als viel weniger von Moskau selbständig als die armenische ein. Wir bestaunen die Ikone der Heiligen Tamar. In der Nähe finden wir das  Priesterseminar - und im Keller eine traditionelle Bäckerei. Den weiten Hauptplatz ziert in der Mitte eine hohe Säule mit der golden glänzenden Reiterstatue des Heiligen Georg (rechts).
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Wir beschritten den von alten Platanen gesäumten Rustaweli-Prospekt in seiner vollen Länge von 1 ½ km zwischen Freiheitsplatz und Platz der Republik. Leider erweist sich auch diese autoreiche Pracht- und Einkaufsstraße als enorm lärmig - Tiflis gehört nach meiner Erfahrung mit Lissabon und Rom zu den lautesten Hauptstädten Europas. Unsere Dolmetscherin Tamuna Datunashvili konnte mit ihrer Mädchenstimme nicht durchdringen; auch Ulrich Matthée hatte seine liebe Mühe - obwohl er von sich sagt, er sei zwar von napoleonischem Wuchs, habe aber eine hünenhafte Stimme.
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Zu den im Klassizismus, Barock und später Jugendstil entstandenen Prachtbauten am Rustawelis Gamsiri (oben links), der in der Sowjetzeit selbstverständlich nach Lenin benannt war, gehört der erstaunlich weiße Jugendpalast (1854 erbaut, vormals benannt nach Fürst Woronzow, dem ersten russischen Vizekönig von Tiflis, rechts oben). Das moderne Parlaments-Haus von 1938 wird von Wasserkaskaden etwas abgeschirmt - und soll angeblich demnächst nach Kutaissi umziehen. Davor duckt sich ein Denkmal für den 9. April 1989, als im Unabhängigkeitskampf zwanzig Jugendliche im Hungerstreik durch scharf geschliffene Spaten und Giftgas sowjetischer Truppen umkamen. 35
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Eine Straßen-Unterführung wird von Schwarzweiß-Fotografien zur georgischen Geschichte illustriert. Leider ist ein Großteil von Randalierern zerschlagen (oben rechts). Aber die Leuchtstoffröhren hinter dem zersplitterten Glas wurden alle ersetzt. Lassen Sie mich meine Gedanken widergeben, die mir hier kamen: Der Elektriker ist ein tüchtiger Unternehmer, er hat gearbeitet und sein Geld bekommen. Der Glaser und der Grafiker haben womöglich auch Geld genommen, dafür aber nicht gearbeitet, sondern den Kassenbeamten bei der Stadtverwaltung bestochen.

Ähnliches könnte auch für den Fliesenleger gelten, der einige Natursteinplatten auf den schadhaften Stufen ersetzt, einige Platten liegen gelassen und anschließend für Monate das Weite gesucht hat. Georgien gehört zu den korrupteren Ländern 36 - und damit auch zu den kaputtesten.

Weitere Großgebäude am Rustaweli sind die Nationale Gemälde-Galerie (1885), das Staatliche Rustaweli-Theater mit seinem reichen Stuck (1887), das Haus der Georgischen Maler (1895), das Staatliche Sachari-Paliaschwili-Theater für Oper und Balett (1896), das Staatliche Simon-Dschanaschia-Museum (1923) und ein ehemaliges Gericht, das zum Kempinski-Hotel umgebaut werden soll.

So voller zwiespältiger Eindrücke fuhren wir mit der Metro, die tief unten mit langen Rolltreppen erreicht wird und deren Stationen deshalb weit auseinander liegen, zurück bis nahe vom Hotel und am Abend wieder zum Rustaweli. Im lauten Keller-Restaurant (Musik ist etwas anderes) bekamen wir Salat, Pilzsuppe, Pommes, Fleischhack in Brotwickeln, Apfelkuchen und Wasser - alles schmackhaft zubereitet. Ähnliche Erfahrungen machten wir am Abschiedsabend in einem Kellerlokal in der Nähe des Hauptplatzes mit dem Goldenen Georg. Zu Essen wurde mehr als die Tische fassen konnten aufgetragen, alles gut zubereitet. Aber von Nationaltänzen war nicht viel zu sehen, die viel zu laute, schlecht ausgesteuerte Musikbeschallung trieb die Gruppe an der Nachbartafel beizeiten aus dem Lokal; auch uns fiel die Unterhaltung schwer.

Morgendliche Spaziergänge führten einige von uns über die eher zu Barcelona passende schön geschwungene Fußgängerbrücke aus Stahlrohren mit einem ausladenden Glasdach über die Kura (Bildmitte). Allerdings fiel mir die Wahl von teilweise sehr leichtem Material ins Auge, das, wie meine Mutter zu sagen pflegte, „von zwölf bis Mittag" halten wird.

Die Neuzeit drückt sich auch in einem Straßennamen aus: dem Boulevard George Bush, mit Großplakat des winkenden US-Präsidenten. Er führt - vorbei am neuen grünen Außenministerium - zum modernsten (und vielleicht einzigen zu 100 % intakten) Gebäude, dem Internationalen Flughafen, welcher von Türken erbaut und wenige Monate vor unserer Reise fertig wurde. Eine Wohltat nach all dem Verfall in Stadt und Land!

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