Die Weser
(lat. Visurgis)
mit der Weserrenaissance
Exkursion mit Prof. Dr. Dr. Ulrich Matthée, Kiel
Vom 25. bis 31. Mai 2006

1 Die Gewässer und Gebirge
1.1 Die Weser
"Die Weeser hat den Namen 'Visurgis', 'Visurgens', denn sie ist offt, zum Schaden derer daran nahe wohnenden, aufgeschwollen." So charakterisierte 1749 Anton Schlichthaber in der Mindener Kirchengeschichte den Fluss. Der lateinische Name leitet sich etymologisch von "vis" - "Kraft" und "surgene" - "aufsteigen" ab. Damit wird auf die verheerenden Hochwasser bis ins hohe Mittelalter hingewiesen. Noch in der frühen Neuzeit galten Flüsse als lebendige, handelnde Wesen, personifiziert durch Flussgötter. In dieser anthropomorphen Sicht bildeten Wasserläufe die Adern der Welt, während Berge das knöcherne Skelett darstellten. 1

Der Ursprung ist die Werra, mit 293 Kilometern der eigentliche Oberlauf der Weser. Ihr "Eigenleben" verdankt die Werra der Grenze zwischen nieder- und oberdeutschem Sprachraum. Mit Quell- und Nebenflüssen hat die Weser heute eine Länge von 732 Kilometern, mit Wehr-, Alt- und Nebenarmen von 810 Kilometern. Sie ist der einzige große Fluss, der komplett nur durch deutsche Gebiete fließt. Das Einzugsgebiet ist 46.300 km² groß. An der Porta Westfalica bei Minden tritt sie aus dem Weserbergland heraus in die Niederdeutsche Tiefebene. Ab Bremen, im Bereich der Unterweser, steht sie unter dem Einfluss der Gezeiten und ist auch für Seeschiffe befahrbar.
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Flüsse eignen sich - neben dem Antrieb von Schiffsmühlen wie bei Minden (links) - besonders für den Transport schwerer, sperriger und zerbrechlicher Lasten wie z.B. Getreide,  Baumaterialien (Holz, Steine, Kalk) sowie Keramik und Glas. Beim Gütertransport sind die Frachtkosten auf dem Wasserweg geringer als auf dem Landweg. Menschen reisten jedoch eher zu Pferde oder mit Wagen, da man selbst flussabwärts auf dem Wasser langsamer voran kommt als auf der Straße. 2  Auf der Bergfahrt waren es vor allem Fisch, Butter und Käse, auf der Talfahrt Waid (aus Erfurt, Textilfärbemittel), Glas, Eisenprodukte und Textilien.

Ein wichtiges Handelsgut war der Obernkirchener Sandstein, der wegen seiner hohen Wetterbeständigkeit, seiner großen Härte und seines feinen Korns als Baumaterial in nahezu allen Ländern Europas und darüber hinaus in Übersee verbaut wurde. Er wurde um 1600 u. a. beim Bau dänischer Schlösser, dem Rathaus von Antwerpen und im 19. Jh. sogar der Kathedrale von Baltimore (USA) verwendet. 3 (links: die Fulda kurz vor dem Zusammenfluss mit der Werra in Hann. Münden)
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Über die Weser ist der norddeutsche Raum mit dem internationalen Wirtschaftssystem der Niederlande verbunden worden, deren wichtigster Hafen (bis zur Teilung von Belgien) Antwerpen war, danach Amsterdam. Hier wurde das Getreide aus dem Wesergebiet verbraucht oder mit großem Gewinn in andere europäischen Regionen verkauft, die von Kriegswirren und Missernten geplagt waren. Der Überseehandel der Portugiesen wurde so mit der Achse England - Deutschland verbunden. Für alle Weserstädte bildete die Hansestadt Bremen die Drehscheibe für die niederländischen Generalstaaten. Sehr förderlich erwies sich, dass Bremen neben Emden die einzige calvinistisch geprägte deutsche Hafenstadt war.

1.2 Der Mittellandkanal
In Preußen lagen die Kornkammern im Ostteil des Landes. Auf den Gütern Ostelbiens wurden Überschüsse insbes. an Getreide erzeugt und in die Städte geliefert. Ab dem Beginn der Industrialisierung setzte eine Landflucht von den Gütern in die Städte ein. Den Höfen fehlten nun Arbeitskräfte - und den Arbeitern in den Städten die Lebensmittel. So begann man, den Bedarf an Brotgetreide auf dem Weltmarkt - insbes. aus Nordamerika - zu decken. Über die Häfen an der Rheinmündung wurde zunächst das Ruhrgebiet versorgt. Als auch Berlin stark an Einwohnern wuchs, sollte auch diese preußische und später deutsche Metropole mit Importgetreide versorgt werden. Denn amerikanischer Weizen war billiger als der aus Pommern, Brandenburg oder Schlesien.

So nötigte Kanzler Otto von Bismarck die Landräte zur Zustimmung für den Bau eines Kanals vom Rhein über die Weser, Elbe und Oder bis ins Warthe-Netze-Gebiet. 20 Landräte widerstanden, dennoch wurde das Projekt Mittellandkanal beschlossen, wie Prof. Matthée uns erläuterte.

1.3 Das Weserbergland
Die Bergzüge und Hügellandschaften zu beiden Seiten der Weser sind der äußerste Vorsprung des Mittelgebirges in die Norddeutsche Tiefebene. Zahlreiche Verwerfungen und die Fluss-Erosion haben das vor allem aus Jura und Kreide aufgebaute Weserbergland mannigfach gestaltet. Das Bergland besteht aus zehn einzelnen "Gebirgen", von Süden nach Norden: Bramwald, Solling, Hils, Ith, Lauensteiner Berge und Osterwald, Süntel, Deister, die Bückeberge und als nördlichen Rand die Weserkette. 4 Es grenzen an: Wiehengebirge, Deister, Vogler, Reinhardswald und Sohlwald.

2 Der Baustil Weserrenaissance
2.1 Grundlagen
Kaum irgendwo sonst in Mitteleuropa wurden so viele Renaissance-Bauten errichtet wie im Weserraum zwischen Hann. Münden (rechts im Bild das Rathausportal) und Bremen, auf der linken Uferseite zwischen Paderborn, Bielefeld und Osnabrück und auf der rechten zwischen Alfeld, Wolfsburg und Celle.

Die wirtschaftliche Blüte zwischen der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg, also etwa von 1520 bis 1620, ermöglichte erst diese Bautätigkeit. Adel und Landesherren ließen neue Schlösser bauen oder alte Burgen umgestalten. Überall in Stadt und Land ließen Bürger und Bauern prachtvolle Rathäuser, Wohnhäuser und Gehöfte errichten, als Stein- oder Fachwerkbauten. Die Landesherren drücken ihre Selbständigkeit und Stärke gegenüber der Reichsgewalt in repräsentativen Landschlössern und Stadthäusern aus. Reiche Kaufleute und Handelsherren zeigen ihren Reichtum und ihre Bedeutung in großen und prächtig verzierten Bauten, wie sie es auf ihren Handelsreisen in Flandern oder Italien kennen gelernt haben. 5
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Vielfach gelangten die Ideen der Renaissance nicht direkt, sondern über andere Teile des Heiligen Römischen Reiches, Frankreich oder die Niederlande, wo sie bereits umgeformt worden waren, in den Weserraum. Sakrale Bauten der Renaissance gibt es dagegen kaum. Im Gefolge der Reformation bestand kaum ein Bedürfnis nach neuen Kirchen, und die Gegenreformation wirkte nicht in Nordeuropa.

Die Weserrenaissance gilt nicht als eigene Stilrichtung, sondern nur als Bezeichnung für eine im Weserraum besonders dichte Gruppe von aufwändigen Schloss- und Bürgerbauten, die durch eine erstaunliche wirtschaftliche Blüte in diesem Gebiet ermöglicht wurde. Die intensive Bautätigkeit führte zur Bildung von Bauhütten oder Bauschulen, deren Werke unter gegenseitigem Einfluss standen und eine gemeinsame Vorliebe für einen bestimmten Formen-Apparat erkennen lassen. 6

Der Begriff Weserrenaissance wurde erstmals 1912 von Richard Klapheck gebraucht. Sie umfasst einen Zeitraum, in dem die damaligen kulturellen Zentren von Italien und Frankreich bereits den Übergang zum Barock vollzogen hatten. Bodenständige und "welsche", also italienische und französische Elemente, vermischen sich.
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2.2 Einige Baumeister
Der Baumeister Jörg Unkair war im zweiten Viertel des 16. Jh. von Lustnau bei Tübingen in den Weserraum gekommen. Als junger Mann hatte er am Straßburger Münster gebaut. Nachweislich war Unkair tätig am Bau der Schlösser zu Mansfeld und Heldrungen (Sachsen-Anhalt), wo bereits Vierflügelanlagen verwirklicht wurden. Neben "welschen Giebeln" gab es hier schon Standerker, die Vorläufer der "Ausluchten" 7. Unkair hatte an den Schlössern in Neuhaus (links), Schelenburg, Stadthagen, Petershagen und Detmold gearbeitet und zum ersten Mal Renaissance-Formen in dieses Gebiet eingeführt. Sein aus Italien stammender Formenapparat mischt sich mit spätgotischen Ausklängen. Unkair entwarf die vierflügelige Schlossanlage mit Treppentürmen in den Hofwinkeln.

Ihm folgt zunächst Cord Tönnis aus Hameln; später stand er aber unter dem Einfluss der niederländischen Renaissance, die auf das Wesergebiet wesentlich eingewirkt hat. Weitere Namen sind Johann Robyn aus Ypern in Flandern und Michael Clare aus Schwerin und Weimar. Insgesamt haben bis zum Dreißigjährigen Krieg über 30 Baumeister im Stil der Weserrenaissance gebaut.

Hermann Wulff ist vermutlich um 1535 in Lermgo geboren, wurde aber erst 1569 Bürger der Stadt. Sein frühestes, durch Meisterzeichen signiertes Werk, ist die Laube am Lemgoer Rathaus von 1565. Es folgten die Erker der Burg Blomberg (1569) und als heraus ragendstes ihm zugeschriebenes Werk die Fassade des Hexenbürgermeisterhauses in Lemgo (1571). Er konnte bereits ein umfangreiches Werkverzeichnis vorweisen, als er 1584 mit dem Bau des Schlosses Brake bei Lemgo begann. Wulff starb vermutlich 1599. Die "irgendwie spukhafte und leicht unheimliche Phantastik", wie sie sich im Fassadenschmuck äußert, ist in den oberen Weserraum eingebettet, der "eine Vorliebe für das Bizarre, Eckige, Knorrige und Schrankenlose" hat. 8

2.3 Stilelemente
Fachwerkbauten werden oft durch Fächerrosetten verziert; Blätter werden wie Fächer oder Strahlen im Halb- oder Dreiviertelkreis angeordnet und ersetzen Muscheln in der italienischen Renaissance. Wenn nicht in Fachwerk, wurde mit Hausteinen gebaut, und zwar:
- Porta-Sandstein aus der Region bei Porta Westfalica
- Roter Sandstein aus dem Wesergebirge
- Schilfsandstein aus Vlotho
- Grau-gelblicher Sandstein vom Bückeberg bei Obernkirchen.
Weniger die eigentliche Komposition der Baukörper als vielmehr die Schmuckformen wurden aus Italien übernommen. Dies beginnt mit dem Mauerwerk in Bossenquadern, das antike römische Mauern vortäuschen soll. Unterschieden werden Rustika aus rauen Steinen, glattes Mauerwerk mit tiefen Fugen und Diamant-Bossen, die spitz hervor treten. Oft wird auch Ziegelmauerwerk in diesen Formen verputzt oder eine glatte Putzfläche wie Mauerwerk bemalt. Mauerkanten und Portale, manchmal auch ganze Sockelgeschosse, werden in Bossenquadern aufgeführt. Bossensteine mit Kerbschnitt in Waffelmuster kamen im Manierismus um 1580 - 90 hinzu (rechts: Tor zum Schloss in Bevern mit Kerbschnitten).
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Der Giebel ist die wichtigste Schmuckfläche der deutschen Renaissance. Geschwungene oder halbkreisförmige Giebel nennt man welsche Giebel, weil sie dem italienischen Vorbild entstammen. Sie erschienen in der Frührenaissance zuerst in der Republik Venedig. Mit einem Jahrhundert Verschub kamen sie über das mitteldeutsche Halle (Dom) und Mansfeld (Grafenschlösser) in den Weserraum. Aufgesetzte Obelisken, Vasen, Statuetten und Muscheln schmücken sie (links: Erker am Leistschen Haus in Hameln). Seitlich in Form einer Schnecke eingerollte Bauglieder nennt man Voluten (lat. volvere = rollen); sie sind ein ursprüngliches Renaissance-Element von Anfang an. Diese Ornamentform besteht meist aus zwei gegeneinander oder gegenläufig gerollten Spiralbändern. Sie stammt aus dem alten Ägypten, kam insbes. über die ionischen Kapitelle in Griechenland in die Hochrenaissance.

Markant sind Roll- und Beschlagwerk. Rollwerk ahmt die Wölbung von Papier oder Pergament nach. Beschlagwerk sieht aus wie eine Schlosserarbeit aus Eisen mit Nägeln und ist ein Zeichen der manieristischen Spätrenaissance. Kartuschen umrahmen Wappen oder Inschriften mit Namen und Jahreszahlen und können in Roll- und Beschlagwerk gestaltet sein.

Säulen und Halbsäulen werden dem Mauerwerk ohne tragende Funktion vorgestellt. Pilaster werden zu Hermen umgestaltet, wobei eine geometrische Form in einen menschlichen Oberkörper übergeht, der scheinbar das darüber liegende Bauelement trägt.

Utluchten (niederdeutsch für Ausgucke) sind Erkern ähnlichee Vorbauten, die auf dem Erdboden aufsetzen und meist zweigeschossig sind. Sie ermöglichen Ausblicke auch zur Seite, die Straße entlang. Die großen Fensterflächen geben den dahinter liegenden repräsentativen Räumen viel Tageslicht.

Auf den Längsseiten der Dächer, quer zum Hauptfirst, werden Zwerchhäuser aufgesetzt, die so hoch sind wie der Dachfirst selbst. Sie sind typisch für die Weserrenaissance und mit einem prächtig verzierten Giebel verblendet. Die Fassade mit einer Reihe von Zwerchhäusern vermittelt den Eindruck einer ganzen Straßenfront von Häusern. Zwerch hat aber nichts mit dem Zwerg zu tun, sondern bedeutet quer (wie das Zwerchfell quer zur Körperachse).

Schlösser der Renaissance haben immer separat in den Ecken der Innenhöfe stehende Treppentürme mit einer Wendeltreppe darin, die alle Stockwerke verbindet. Der Eingang in den Turm ist meist mit einem prächtig verzierten Portal geschmückt. 9

Bilder unten: Funktion der Zentral-Perspektive am Beispiel des Gemäldes von H. Vredeman de Vries: "Lazarus und der Reiche" von 1572. Alle Fluchtlinien verlaufen von einem Punkt in der Mitte aus zu den Rändern. (Weserrenaissance-Museum Schloss Brake, Lemgo)
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Den eigentümlichen Stil des 16. und 17. Jh. könnte man auch so beschreiben: "Die Weserrenaissance ist die norddeutsche liebenswürdige Variante eines ernsten italienischen Architektur-Themas." 10

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