4.4 Stralsund
4.4.1 Stadtgeschichte
Wer ein schwaches Zahlengedächtnis hat: Das Gründungsjahr ist ganz einfach 1234. Den Gründungstag merken sich die Lutheraner: Es ist der Reformationstag, 31. Oktober.
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Stralsund ist bekanntlich das Tor zur Insel Rügen, mit der es über inzwischen zwei Brücken - einer alten für Fußgänger, Radfahrer und Bahn (auch Autos), einer neuen nur für Autos - verbunden ist. So hat einst der Slawenfürst Wizlaw I. von Rügen Stralsund das Rostocker (bzw. Lübecker) Stadtrecht verliehen, denn die Boddengewässer mit ihrem Fischreichtum und das Hinterland mit fruchtbaren Böden bildeten eine gute Grundlage für die Handelstätigkeit. Schutz boten zur Seeseite die vorgelagerte Insel Strela, heute Dänholm genannt, und zur Landseite Sümpfe, aus denen heute Franken- und Knieperteich wurden, welche beide noch durch je einen Damm geteilt sind. Die Stadt hat damit eine inselähnliche Lage. 58

Doch woher kommt der Name Stralsund? Auf dem Gebiet der Neustadt bestand schon vorher das Fischerdorf Stralow. Im Slawischen bedeutet stral soviel wie Pfeil- bzw. Speerspitze, und -sund steht in germanischen Sprachen für eine trennende Enge und meint hier den Strelasund.

Und dieser Pfeil zeigt sich auch in Siegel und Wappen, zuerst noch nach rechts fliegend über einem Schiff ohne Mast über zwei Fischen, seit einem halben Jahrtausend allein nach oben zeigend. 59 Prof. Kiesow merkte an, die slawischen Bewohner seinen nicht von den Neusiedlern ausgerottet, sondern integriert worden.

Im 13. Jh. rangen die Handelsstädte untereinander um die Vorherrschaft, wobei leider Lübeck 1249 seine Konkurrentin Stralsund niederbrannte. Der Wiederaufbau ging voran, der Fürst von Rügen setzte 1265 einen Vogt zur Zoll- und Steuererhebung ein. Später übernahmen die 24 Ratsherren seine Macht; mehr Privilegien wie die eigene Gerichtsbarkeit folgten 1300.

Die Gefangennahme des Herzogs von Sachsen-Lauenburg bei der "Entführung aus dem Hainholz" 1316 brachte der Stadt hohe Lösegelder; wahrscheinlich wurde davon der Schaugiebel des Rathauses finanziert. Das Münzrecht musste auch noch an den Rat abgegeben werden. Um 1340 hatte Stralsund bereits über 10.000 Einwohner! 13 Werftplätze und 72 Böttcher sind überliefert.

Ein knappes Jahrhundert nach seiner Gründung wurde Stralsund pommersch, es kam nach dem Erlöschen des Fürstentums Rügen zu Pommern-Wolgast. Die florierende Zwischenhandelsstadt schloss verschiedene Schutzabkommen mit Nachbarstädten, die zum Bund der Hanse führten. Bis zu dreihundert dickbäuchige und hochbordige Hansekoggen segelten in der Blütezeit unter der Flagge Stralsunds auf Ost- und Nordsee. Der Stralsunder Frieden von 1370 beendete ein zehnjähriges Ringen der Hanse mit Dänemark.
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Anders als Dänemark war Schweden als Großmacht willkommen, wenn auch zuerst unfreiwillig: Albrecht von Wallenstein belagerte 1628 mit seinen kaiserlich-katholischen Truppen die Hansestadt. Überliefert ist sein Zitat: "Und wenn die Stadt mit Ketten an den Himmel gebunden wäre, ich will sie herunter holen". Der Protestant Gustav II. Adolf (links) war stärker, so dass Schweden im Westfälischen Frieden 1648 Vorpommern völkerrechtlich zugesprochen bekam. Stralsund entwickelte sich zum Brückenkopf Schwedens auf dem Kontinent. Die Schwedenzeit dauerte mit wenigen Unterbrechungen bis zum Wiener Kongress von 1815. Damals erwarb Preußen den ihm noch fehlenden Rest von Pommern.

Das Königreich Preußen richtete in Stralsund einen neuen Regierungsbezirk "Neuvorpommern" ein; auf dem Dänholm entstand 1848 der erste deutsche Kriegshafen, dessen Schiffe ein knappes Vierteljahrhundert später nach Kiel verlegt wurden. In der Geschichte des Einzelhandels spielt auch Stralsund eine Rolle: Die Kaufhausketten Wertheim und Kaufhalle (Leonhard Tietz) haben hier ihre Wurzeln.

Am 6. Oktober 1944 zerstörte ein Bombenhagel von 146 "Fliegenden Festungen" Teile der Stadt mit 8.000 Wohnungen und einigen wertvollen Gebäuden. In der DDR wurde mit der Volkswerft Stralsund ein Großbetrieb mit bis zu 8.000 Arbeitsplätzen aufgebaut. Hier entstanden, vor allem für die Sowjetunion, um die 1.500 Schiffe, vor allem Logger und Trawler für Fischfang und -verarbeitung. In der 300 m langen, 108 m breiten und 70 m hohen Schiffbauhalle und dem Gelände daneben arbeiten heute etwa 1.200 Leute. 60 Einer der größten Arbeitgeber ist seit Ende des letzten Jahrhunderts die Niederlassung der Deutschen Rentenversicherung Bund mit etwa 1.400 Beschäftigten. In Stralsund leben knapp 58.000 Menschen.
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4.4.2 Stadt und Markt
Bisher war immer die Rede von der einen Stadt Stralsund. Doch es gab deren zwei: Die Altstadt um den Alten Markt mit dem prägnanten Rathaus und der erhabenen Doppelturmkirche St. Nikolaus sowie die Neustadt von 1285 mit dem Neuen Markt an der Marienkirche im Süden der Stadthalbinsel. Trennlinie sind heute der Apollonienmarkt und die Papenstraße. Ende des 13. Jhs. verband beide eine gemeinsame Stadtmauer. Von den einst zehn Stadttoren sind nur noch zwei erhalten: Kniepertor von 1293 und Kütertor von 1446. Der einstige Reichtum Stralsunds ist noch immer an den mächtigen Backsteinkirchen, den Klöstern, einigen Kaufmannshäusern und dem Rathaus mit seiner reich verzierten Front abzulesen.

Das Stralsunder Rathaus, im frühen 13. Jh. vor die Westfassade der Nikolaikirche gestellt, zählt damit zweifelsohne zu den schönsten Profanbauten der norddeutschen Backsteingotik. Der sechsschiffige Gewölbekeller (nicht zugänglich) diente vermutlich zuerst als Tuchhalle. Im Erdgeschoss waren zu beiden Seiten eines langen Durchganges 40 Kramerläden bzw. Verkaufsbuden untergebracht, was man auch als "Kophus", Kaufhaus, bezeichnet. Über der zweischiffige Gewölbehalle liegt der sog. Löwensche Saal. Davor ragt die berühmte Schaufassade auf nach Norden zum Alten Markt. Über den Fenstern zieren die Wappen der Hansestädte Wismar, Lübeck, Hamburg, Greifswald, Stralsund und Rostock sowie an der Schmalseite zum Kirchturm die Wappen von Bremen und Lüneburg. Der barocke Längsgang wurde mit seiner Galerie auf Säulen nach dem Vorbild des Heilgeist-Spitals gestaltet. Etwas überraschend wirkt das Wappen über dem kurzen Quergang vom Kirchenportal zur Ravenstraße, dem sog. Buttergang:
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Das Kreuz wurde aus dem Wappenschild ganz nach oben heraus gehoben und durch eine goldene Krone ersetzt, der Hintergrund ist blau - dies deutet auf die Schwedenherrschaft. Dieses besondere Wappen galt übrigens von 1648 bis 1938.

Auf der Ostseite finden wir fast das gleiche Wappen am Giebel der einstigen schwedischen Commandantur. Im Arkadengang steht folglich auch eine Bronzebüste für König Gustav Adolf, eine Kopie des Originals aus Schweden. Am 27. Juni 2002 wurde die Altstadt von Stralsund zusammen mit der von Wismar in die Welterbeliste der UNESCO eingetragen; eine Bronzeplakette im Buttergang erinnert daran (Foto links, siehe Kapitel 4.3.3). Kommentar zu den Plattenbauten am Markt: "Na ja, es geht einigermaßen".
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4.4.3 St.-Marien-Kirche
Drei große Kirchen prägen das Stadtbild: St. Marien - die Mächtige, St. Nikolai - die Prächtige und St. Jakobi - die Schmächtige. 61 Eine Marienkirche am Markt der Neustadt als größte Pfarrkirche Stralsunds wurde bereits 1298 erwähnt. Ein knappes Jahrhundert später soll deren Turm eingestürzt sein. Sogleich wurde eine neue Kirche angefangen, deren Querhaus 1411 fertig war, fünf Jahre darauf wurde mit dem heutigen Westwerk begonnen. Zwei Seitenhallen flankieren den Mittelturm, den vier Treppentürme einrahmen. Bis 1647 stand oben auf ein Spitzhelm, so dass der Turm rund 150 m aufragte - damit war er vermutlich der höchste an der Ostsee. Nach einem Orkan oder Blitzschlag dauerte es mehr als ein halbes Jahrhundert, bis der heutige Barockhelm mit Laterne aufgesetzt wurde. Der Turm lässt sich übrigens über 366 Stufen bis in 104 m Höhe besteigen.

Die Marienkirche ist die jüngste gotische Backstein-Basilika im nordischen Raum. Sie wurde übrigens von den reichen Gewandschneidern finanziert. Sie besitzt einen polygonalen Chorumgang mit Kapellenkranz; ungewöhnlich ist das dreischiffige Querhaus. Die 96 m lange, 41 m breite und im Mittelschiff 32,95 m hohe Kirche vermittelt einen enormen Raumeindruck. Die Marienkirche zu Stralsund ist somit - nach der Marienkirche zu Danzig - als die größte Backsteinkirche im Hanseraum zu betrachten. 62
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Den Raum bestimmen einfache Achteckpfeiler ohne Kapitelle; die schlichte Architektur wurde durch eine reiche Ausmalung aufgewertet. Von diesem mittelalterlichen Bildwerk und der Ausstattung mit 44 Altären, davon einer in jeder Einsatzkapelle, ist kaum noch etwas erhalten. Diese wurden durch barocke Grüfte ersetzt, man sitzt sonntags quasi auf den Schultern der Ahnen, wie Kiesow schmunzelnd bemerkte. Der Hauptaltar wurde im Jahr vor unserem Besuch mit Geld der Denkmalstiftung restauriert, der Gemeindekirchenrat dankte daneben für die empfangene umfangreiche finanzielle Unterstützung durch die Sparkasse der Hansestadt Stralsund (inzwischen aufgegangen in der Sparkasse Vorpommern) bei der Restaurierung von Außenwänden und Turmfenstern.

Da alle drei Stadtkirchen wertvolle Orgeln besitzen, soll hier ein hanseatisches Orgelzentrum entstehen, das sich um die Pflege dieser Instrumente und der norddeutschen Orgelmusik kümmern möchte. Für die Restaurierung der Orgeln gab die Reemtsma-Stiftung 300.000 Euro, die "Zeit"-Stiftung eine Million. Letztere beauftragte die Denkmalschutzstiftung mit der Überwachung, nachdem zwei Betrugsversuche aufgedeckt worden waren, merkte Prof. Kiesow an. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz gab bis 2005 rund eine Million Euro für die Turmsanierung und die Restaurierung von zwölf Chorfenstern. - Die Baugerüste zu beiden Seiten des Langhauses waren bei meinem Besuch sieben Jahre später abgebaut, doch im Chor hängt jetzt ein Netz wegen herab fallender Putzstücke.

4.4.4 St.-Jakobi-Kirche
Während St. Nikolai für die Patrizier, St. Marien für Handwerker und Krämer diente, war St. Jakobi für den ärmsten Stand die Gottesdienststätte. Eine Hallenkirche wurde erstmals am Rande des älteren Stadtkerns 1303 genannt. Im selben Jahrhundert wurden das sieben Joche lange Mittelschiff mit einem allerdings mickrigen Obergaden erhöht und Seitenkapellen angebaut. Der 68 m hohe Turm - weiter westlich als sein wohl eingestürzter Vorgänger - ist der äußerlich schönste Teil der Architektur. Bei der Belagerung durch Wallenstein 1628 trafen 30 Geschosse die Kirche. Die Turmspitze brannte 1662 nach Blitzschlag nieder. Auch bei Kämpfen gegen Kurbrandenburg 1678 und Dänemark 1715 entstanden erhebliche Schäden durch Beschuss mit Artillerie. Der Luftangriff im Oktober 1944 traf St. Jakobi ebenfalls am schwersten. Immerhin waren die Kanzel von Hans Lucht sowie das Ölgemälde der Kreuzabnahme und Himmelfahrt von Heinrich Tischbein ausgelagert. 63 Nach dem Krieg diente der Kirchenraum als Lager für Inventar aus vom Einsturz gefährdeten Kirchen.
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Zu den Wiederaufbau-Arbeiten hat allein die Deutsche Stiftung Denkmalschutz bis 2006 bereits 2,2 Mio. Euro beigesteuert. Die Gangbarmachung der ausgebauten Orgel mit ihren Windladen, Holz- und Zinnpfeifen wird etwa 1,5 Mio. Euro kosten und soll nach der Fertigstellung der beiden anderen Großorgeln Stralsunds angegangen werden. Die künftige kulturelle Nutzung muss der Würde des einst sakralen Raumes angemessen sein, so Gottfried Kiesow; damit kämen keine Modenschau mit Damen-Unterwäsche, Disko- oder Techno-Konzerte in Frage, sondern eher Theateraufführungen.

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